Mehr kann Kunst nicht leisten

Bernhard Gander zeigt seine aufrüttelnde Flüchtlingsoper „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ zum Auftakt der Münchener Biennale für Neues Musiktheater. Mehr kann Kunst nicht leisten.

Von Reinhard J. Brembeck/Süddeutsche Zeitung

Selten nur traut sich Oper heute direkt an die brennenden Themen der Zeit und selten nur gelingt das dann auch noch derart schlüssig wie jetzt mit Bernhard Ganders „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“. Diese Uraufführung auf der Bühne der Muffathalle eröffnete die diesjährige Münchener Biennale für Neues Musiktheater, die, das ist weltweit einmalig, seit 1988 ausschließlich frisch komponierte Opern zeigt.

Der Titel von Ganders Stück hält, was er verspricht. Die drei Solisten, der siebenköpfige, oft solistisch agierende Chor und eine Schauspielerin sind in einhundert pausenlosen Minuten ständig als Flüchtlinge irgendwo in Osteuropa und/oder Deutschland, Libretto wie Regie legen sich da nicht fest. Dazu spielt ein faszinierendes Quintett des auf Neue Musik geeichten Ensemble Modern unter der Anleitung von Dirigentin Elda Laro elektronisch verzerrte Todesmärsche, rhythmisierte Verzweiflungsmusiken und Untergangstänze, die Sänger skandieren und rappen mehr als sie singen.

Das ergibt ein aufrüttelnd Grau in Grau gehaltenes Tableau der Unmenschlichkeit, wie sie alle Flüchtlinge zwischen Hunger, Abschiebung, Demütigung, Angst und Folter täglich überall auf der Welt erleben. Es ist der Alltag der vielen, den die reiche erste Welt meist nur aus Fernseh- und Internetbildern kennt, die schnell verblassen. In der Muffathalle ist das anders. Einhundert Minuten Elend können sehr lang sein, hier sind sie sehr intensiv. Der Librettist, Lyriker und Rocksongtexter Serhij Zhadan wurde 1974 im derzeit vom russischen Krieg verheerten Luhansk geboren. Er liebt Sentenzen wie „Kultur ist die Fähigkeit, in Gegenwart der Toten über das Leben zu sprechen“ und Poetisches wie „Nacht, getränkt von Schlaflosigkeit, Nacht, wenn die Parkplätze weitläufig wirken, Nacht unserer Einsamkeit, Nacht der Stimmlosigkeit“, gesungen wird das im Original ukrainische Libretto auf Deutsch.

Gander aber komponiert rasant über alles hinweg, sodass man über die Sentenzen nicht nachdenken, dem Poetischen nicht nachhorchen kann. Das ist gut so. Denn Gander schreibt eine Wiederbelebung der antiken Tragödie mit ihren gesellschaftskritischen Chören und überindividuellen Arien, er verweist auf Ludwig van Beethovens „Mondscheinsonate“, Kurt Weills „Sieben Todsünden“, Igor Strawinskys „Oedipus Rex“. Hier steht nicht wie in der Romantik, mit der viele heutige Komponisten noch immer nicht abgeschlossen haben, der Einzelne mit seinem Wehwehchen im Zentrum, sondern das Kollektiv der Schikanierten.

Die Stimmen der Vertriebenen bezeugt diese Oper – und beglaubigt damit auch ihren Sinn

Theun Mosk hat eine Mauer hingestellt, rechts ein marodiertes Auto, dazwischen viele Säcke, mit denen man Flüchtlinge auf den Straßen sieht. Der grandiose Chor steht in der kalten Szene gegen die Solisten. Carl Rumstadt und Andrew Robert Munn geben zwei Abschiebehäftlinge, Antonia Ahyoung Kim eine Mutter. Wegen Ganders archaischer Klänge, peitschenden Rhythmen und einer dezidierten Unsentimentalität driftet der Abend nie in eine Betroffenheitsshow ab. Die liefert allerdings die Schauspielerin Nadine Geyersbach. Bei ihr klingen Zhadans Texte, die durch Ganders Musik ausgehärtet werden und die Wucht eines Requiems haben, weinerlich selbstgerecht. Das lastet verstörend auf dem Abend. Hier hätte die Regisseurin Alize Zandwijk gern straffend eingreifen können, schließlich lässt sie auch sonst keine vordergründigen Aktualisierungen an diesem Abend zu, der kein Mitleid einfordert und keine Weinerlichkeit bedient. Denn Komponist Gander will aufrütteln, beunruhigen, am Wertbewusstsein der Reichen kratzen. Das kann er ziemlich gut.

Librettist Serhij Zhadan liefert aber nicht nur leitartikelige Schreckenstableaux, er versucht zuletzt auch eine Synthese. Verklärung und Sentiment sind seine Sache nicht, da trifft er sich mit seinem Komponisten. Er weiß auch, dass Kunst etwas anderes ist als die Wirklichkeit, die abzubilden ihr nicht genügen kann. Wie aber kann ein Texter glaubwürdig herauskommen aus einer Situation, die Zehntausende von Flüchtlingen täglich als aussichtslos erleben?

Zhadan gibt deshalb ganz unspektakulär den Psychologen der Schicksalsannahme. Seine Geflüchteten werden abgeschoben in ihre Heimat, die sie aus guten Gründen verließen, und wo ihnen Gefängnis, Folter, Tod droht. „Seid ihr bereit, dem Leben ins kranke Auge zu blicken?“ fragt das Libretto und formuliert dann eine entscheidende Aufgabe der Kunst vor dem Leid der Menschen: „Sei unser Zeuge, du dornige Sprache…Bist du bereit, den Tod zu bezeugen?…Bezeuge die Stimmen, die die Bewohner der abgebrannten Städte aus dem Schlaf gerissen haben.“ Mehr kann Kunst nicht leisten, und genau das tut diese Oper, die damit auch Sinn und Notwendigkeit ihrer oft als abgehobene Unterhaltung wahrgenommenen Kunstform beglaubigt.

Mit „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ beginnt die vierte von dem auf Experimente geeichten Komponistenduo Manos Tsangaris und Daniel Ott ausgerichtete Biennale ausgerechnet mit einem starken Bekenntnis zur traditionell geschlossenen Form, der es paradoxerweise trotz aller Anklänge an die Tradition gelingt, zeitgemäß modern zu wirken. Mitten in Seuche und Krieg ist das erstaunlich. Genauso erstaunlich ist, dass die Hochkulturform Oper ihre gesellschaftliche Relevanz noch immer nicht verloren hat.

Von Reinhard J. Brembeck

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